Das Multiversum der Bilder – zu den Arbeiten von Jutta Kritsch
Mit ihren neuesten Arbeiten entführt Jutta Kritsch die Betrachter in Parallelwelten. Die zwischen 2011 und 2013 entstandenen Bilder, die der Werkgruppe „Tatorte“ angehören, stellen Orte dar, an denen etwas passiert, passiert ist oder noch passieren wird. Nicht immer sind die agierenden Personen anwesend, hier und da spricht der Ort des Geschehens für sich und hinterlässt eine rätselhafte Ahnung. Ob die „Tat“ eine Handlung im weitesten Sinne oder ein Verbrechen ist, lässt sich nicht endgültig aufklären. Wir, die Schaulustigen, bleiben mit unseren Fragen allein und suchen in dem Bild nach weiteren Anhaltspunkten, nach Beweismitteln, die unsere Theorie bestätigen könnten.
Ob Verbrechen oder nicht, in jedem Fall bildet Jutta Kritsch „Schlüsselmomente“ ab, Augenblicke also, die entscheidend für den weiteren Handlungsverlauf sind. Den Schlüssel jedoch gibt uns die Künstlerin nicht mit in die Hand. Sie lässt den Betrachter bewusst im Unklaren, indem sie lediglich den Ausschnitt einer Geschichte zeigt und nicht das große Ganze. Die geheimnisvollen Szenerien evozieren ein vages Gefühl und aus einem zunächst diffusen Gedankengeflecht wird jeder Einzelne die Geschichte automatisch weiterspinnen und sie so zu seiner ganz persönlichen machen. Entschlüsseln müssen wir folglich selbst, mithilfe unserer eigenen Assoziationen, Erinnerungen, Erfahrungen. Der Titel kann dabei eine Hilfestellung sein oder aber das Motiv noch stärker verrätseln.
Angeregt wird Jutta Kritsch von Fotografien oder Filmausschnitten, die ein bestimmtes Gefühl in ihr auslösen. Für die Künstlerin besteht der Reiz dabei in der Übertragung dieses Gefühls in die Malerei. Bezogen auf den Film bedeutet das gleichzeitig die Umsetzung eines bewegten Mediums in ein statisches, ohne die Wirkung zu verändern. Auch malerische Herausforderungen wie Perspektiven, Licht, Schatten, Verzerrungen oder bestimmte Farbnuancen spielen eine Rolle bei der Motivwahl. Im Fokus ist jedoch immer die Intensität des dargestellten Moments, der einerseits Klarheit und andererseits Zweifel auslöst – ein ambivalentes Spiel mit den Möglichkeiten.
Intensiv ist in jedem Fall das Motiv Nach dem Sturm, das den Betrachter sofort in seinen Bann zieht. Nicht nur die fast fotorealistische Wirkung macht die Faszination aus, sondern ebenso die extreme Nahsicht der jungen Frau, die uns mit ihrem Blick fesselt. Ihr Gesicht nimmt fast den gesamten Bildraum ein, der Kopf ist oben sogar angeschnitten. Heftiger Regen überflutet sie förmlich, Wasser rinnt Nase und Augen hinunter, die Haare sind völlig durchnässt. Die rechte Hand hat sie erhoben, vermutlich um sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht zu streifen. Einerseits wirkt der Regen brutal, andererseits umhüllt das Wasser das Gesicht wie ein weicher Schleier. Die Farben sind reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne – virtuos spielt Jutta Kritsch hier mit den Möglichkeiten von Hell-Dunkel-Kontrasten.
Für die Umsetzung ihrer Ideen bedient sich Jutta Kritsch nicht nur klassischer Techniken wie Acryl oder Tusche, sondern auch Collagen und Mischtechniken, wie auch im Falle von Nach dem Sturm. Der Einsatz von Collagen verstärkt die Mehrdeutigkeit der Motive, da sie es ermöglicht, verschiedene Ebenen zu einem Bild zu verschmelzen und so durch eine Mehrschichtigkeit im eigentlichen Sinne auch mehrschichtige Deutungsperspektiven zuzulassen. Zieht man hier erneut die Parallele zum Film erinnert diese Vorgehensweise an einen Trailer, also ein aus verschiedenen Passagen des eigentlichen Films zusammengesetzter Vorschau-Clip – ein Einblick wird gewährt, Neugier geweckt, aber das Ende noch nicht verraten. Auf die gleiche Weise funktionieren die Bilder von Jutta Kritsch (vgl. Ich und die anderen,; Eine vernünftige Lösung; Ein Tag).
Eine besondere Materialästhetik erzielt die Künstlerin indem sie zusätzlich zur Acrylfarbe Papier auf die Leinwand bringt. Dadurch wirkt die Oberfläche nicht mehr homogen, sondern seltsam brüchig und angekratzt. In Bildern wie Transit, Alice, Blueberry Pie oder Das Spiel unterstreicht diese Technik den Eindruck der auf den ersten Blick scheinbar heilen Fassade der Szene, die schon im nächsten Moment bröckeln kann. Eine Steigerung erfährt diese Oberflächenwirkung, wenn das Papier unter einer hochglänzenden, glatten Bildoberfläche liegt, die Jutta Kritsch mittels eines flüssigen Kunststoffüberzugs (Polymer) erzeugt. Durch kleine Wellungen und Falten im Papier wird die zunächst wahrgenommene Glätte bei näherer Betrachtung konterkariert. Diese Gegensätzlichkeit bringt einen ganz speziellen haptischen Reiz mit sich und kann in einem Bild wie Vor der Botschaft die Zerrissenheit des Motivs symbolisieren – Ist es Verzweiflung, Hoffnung, Skepsis oder angespannte Vorfreude, die aus dem Gesicht spricht? Steht die Frau vor oder hinter dem Zaun und was würde das jeweils für die Situation bedeuten? Freud und Leid liegen hier dicht beieinander. Wieder stehen wir als Betrachter vor einem Rätsel, das wir nicht endgültig lösen können und es bleibt ein bitterer Geschmack zurück.
Mitunter lassen sich in den Bildern von Jutta Kritsch auch kunsthistorische Zitate entdecken, beginnend bei den alten Meistern über die klassische Moderne bis hin zur Street Art. In Der alte Mann und das Mädchen begegnet uns augenscheinlich das Mädchen mit dem Perlenohrring aus dem Jahre 1665 von Jan Vermeer (1663–1675). Durch die Verschiebung des Motivs in einen anderen Kontext wird es mit einer neuen Bedeutung aufgeladen und erhält einen aktuellen thematischen Bezug: Die rosarote und himmelblaue Welt des Mädchens wird durch den anonymen, älteren Herren im Anzug, der sie aus dem grau-schwarzen Hintergrund beobachtet, bedroht. Farbe wird hier zum Symbolträger – obwohl in dieser Szene nichts passiert, haben wir das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und erahnen etwas Unheimliches.
Der Bildaufbau von Morgen das Gestern orientiert sich an einem Gemälde des amerikanischen Realisten Edward Hopper (1882–1967). In ähnlich kühler Farbgebung erzeugt Jutta Kritsch eine melancholische Stimmung, wie wir sie aus den Bildern Hoppers kennen. Bezugslos sitzt eine Frau mit Micky Maus-Kopf auf einer sonst menschenleeren Straßenkreuzung, sozusagen als personifizierte Isolation des Einzelnen. Micky Maus, gefeierter Star der Disneywelt und Ikone der Comicgeschichte kann nicht von der Einsamkeit und Verlassenheit der dargestellten Figur ablenken. Vielmehr verleiht die absurde Kombination von Menschenkörper und Comicmaske der Szenerie einen fast surrealen Charakter.
Die Formensprache der Street Art lässt sich in verschiedenen Bildern Jutta Kritschs erkennen. So beispielsweise in Hier und anderswo, wo sowohl die Figur am rechten Bildrand als auch die Strommastenlandschaft links daneben mithilfe von Stencils, also Schablonen, auf das Bild gesprüht sind. Der Einsatz von auffällig schwarzen Konturlinien wie in der sechsteiligen Bilderreihe Ein Tag oder Ultimatum (S. XX) erinnert an die klassischen Outlines beim Graffiti und die in die Bilder collagierten Papierfiguren lassen an die von einigen Street Art-Künstlern angewandte Cut Out-Technik denken. Cut Outs sind aus Papier ausgeschnittene Motive, die mittels Kleister auf einen Untergrund im öffentlichen Raum geklebt werden. Dabei spielt das Zusammenwirken von Hintergrund und Motiv eine wichtige Rolle, denn so kann ein Ort mit ungewohnten, neuen Inhalten aufgeladen werden. Genau wie die Cut Outs sich den Stadtraum für ihre Erzählungen zunutze machen, erobern bei Jutta Kritsch die eincollagierten Papiermotive den Bildraum und lassen durch das ungewöhnliche Zusammenspiel der Inhalte fantasievolle Geschichten entstehen.
Ein kleines Intermezzo begegnet uns in der Werkgruppe Dinge, die hier mit drei Beispielen vertreten ist: Drehverschluss, An – Aus und Wasserhahn. Dabei handelt es sich um banale Alltagsgegenstände, die auf Baumwolle gemalt sind. Sind sie stille Zeugen bei den oben erwähnten Schlüsselmomenten? Sollten wir sie auf Fingerabdrücke untersuchen?
Die Tore zu den Parallelwelten hat Jutta Kritsch uns geöffnet, durchschreiten müssen wir sie selbst. Die Reise durch dieses Multiversum, also der Gesamtheit aller Parallelwelten, führt uns vorbei an zwielichtigen Bürovierteln, in unheimliche Schiffsgänge, unter Brücken und an andere fragwürdige Orte. Die Geschichten der Heldinnen und Helden, die uns in den Motiven begegnen, schreiben wir in unserer Fantasie weiter und je mehr Betrachter die Bilder lesen, desto unterschiedlicher werden die Geschichten sein und desto vielfältiger letztendlich das Multiversum der Bilder.
Verena Borgmann
[Bremen, Frühjahr 2013]This entry was posted on Mittwoch, Februar 26th, 2014 at 5:01 pm
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